Rückblick auf das politische Jahr in Thüringen

Karola Stange und Isabella-Marie Sander

Das Hochgefühl nach der Wahl im vergangen Oktober 2019, in welcher DIE LINKE. das beste Ergebnis seit ihrer Gründung erzielen konnte, war Anfang 2020 leichter Anspannung gewichen. Denn trotz des guten Ergebnisses unserer Partei, war nun die AfD zweitstärkste Kraft im Parlament. Der Plan zur Fortführung der rot-rot-grünen Koalition war zwar gesetzt, aber nicht sicher. Es gab keine eindeutige Mehrheit für R2G, man verhandelte deswegen schon im Vorfeld mit der CDU, damit sie eine Minderheitsregierung von R2G mitträgt.           
Erfurt, 5. Februar 2020, 11.00 Uhr, Beginn der Sitzung des Thüringer Landtags zur Wahl des Ministerpräsidenten. Zur Wahl stellt sich neben Bodo Ramelow auch Christoph Kindervater (parteilos, Kandidat der AfD). Nach 20 Minuten steht das Ergebnis des ersten von insgesamt drei Wahlgängen fest: von den notwendigen 46 Stimmen für eine absolute Mehrheit erzielt Bodo Ramelow 43, Kindvater 25 und 22 der Abgeordneten enthalten sich. Nach einer kurzen Pause beginnt der zweite Wahlgang, welcher wieder keine absolute Mehrheit bringt für Ramelow (Ramelow 44 Stimmen, Kindervater 22 Stimmen, Enthaltungen 24). Die Presse spricht mittlerweile von einem „Wahl-Krimi“. Im dritten Wahlgang ist eine relative Mehrheit ausreichend, würde der dritte Wahlgang ebenso ablaufen die vorherigen, wäre Ramelow in seinem Amt als Ministerpräsident bestätigt. Aber die Lage spitzt sich weiter zu, als 12.45 Uhr die FDP mit Thomas Kemmerich einen eigenen Kandidaten aufstellt. 13.27 Uhr steht fest: Kemmerich gewinnt mit einer Stimme mehr als Bodo Ramelow (45 zu 44 Stimmen, eine Enthaltung), Kindervater erhält keine einzige Stimme. Das bedeutet, die AfD hat für Kemmerich gestimmt, anstatt für ihren eigenen Kandidaten. Auch die CDU-Abgeordneten stimmten für Kemmerich. Fünf Minuten später wird Kemmerich bereits vereidigt. Es ist nun an den Fraktionsvorsitzenden, dem neuen Ministerpräsidenten zu gratulieren. Doch auch wenn die Wahl von Kemmerich zum Ministerpräsidenten für einige eine vorhersehbare Möglichkeit der Ereignisse war, ist man über die Realität trotzdem schockiert. Ein angeblicher Demokrat ließ sich vom eindeutig faschistischen Flügel der AfD wählen. Deswegen gratulierten Kemmerich nicht alle. Susanne Hennig-Wellsow wirft den Blumenstrauß, der für Bodo Ramelow gedacht war, vor Kemmerichs Füße.     
Eine Tat mit so viel Symbolkraft, dass die ganze Republik darüber diskutierte, viele Artikel thematisierten dies und sogar in Liedern griff man den Blumenstraußwurf auf. Als ein solches Symbol war es wohl nicht gedacht von Hennig-Wellsow, eher eine Handlung aus den überkochenden Emotionen heraus: Wut, Schock und Fassungslosigkeit über Geschehenes. Aber gerade das macht es so aussagekräftig, denn der Wurf sprach nonverbal alles das aus, was viele in den Momenten nach der Wahl fühlten. Der Dammbruch war geschehen, ein bitterer Tag für die Demokratie.           

Die deutschlandweiten Proteste und die Menschen vor Ort in Erfurt wie die „Omas gegen Rechts“, die jeden Tag vor der Staatskanzlei demonstrieren, sowie der mediale Druck führen schließlich zum Rücktritt von Kemmerich. FDP und CDU hatten sich von der AfD benutzen lassen und standen nun als die Blamierten dar, während die AfD sich selbst feierte. Aber wie weiter? Wie rafft man sich auf nach solch einem Schlag? Man besinnt sich auf das Wichtige: Stabilität für Thüringen bringen. Linke, SPD, Grüne und CDU treffen sich zu Verhandlungen vor dem Hintergrund der Regierungskrise. Die Fraktionen einigen sich auf die Wahl von Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten am 4. März und die anschließende Vereidigung einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung. Es soll ein „Stabilitätsmechanismus“ eingerichtet werden, der die Einigung auf verschieden Projekte ermöglicht. Vor allem ist den vier Fraktionen der Beschluss eines neuen Haushalts für 2021 wichtig. Auch vorgesehen in der Einigung ist die Auflösung des Landtags für Neuwahlen am 25. April 2021. Nach Unterzeichnung des „Stabilitätspakts“ am Morgen des 4. März 2020 beginnt die Ministerpräsidentenwahl um 14 Uhr. Sie endete mit der Wahl Bodo Ramelows zum Ministerpräsidenten im dritten Wahlgang.                

Schon am Tag der Wahl spricht Bodo über das Corona-Virus und betont die Bedeutung des öffentlichen Gesundheitswesens. Zu diesem Zeitpunkt ist das Thema noch nicht Mittelpunkt unseres Lebens. Doch die Situation ändert sich rasant. Nur zwölf Tage später schließen Schulen und Kindergärten in ganz Deutschland und Grenzkontrollen sowie Einreiseverboten werden eingeführt. Am 22. März folgt der „Lockdown“, nicht so strikt wie in anderen Ländern, aber es gelten strenge Ausgangs- und Kontaktbeschränkung. Viele können nicht mehr arbeiten oder müssen ins Homeoffice wechseln.          
Mein Team und ich versenden Briefe an Einrichtungen, Vereine und die Ortsteilbürgermeister*innen und erhalten viele Rückmeldungen. Der Redebedarf ist groß. Die bereits vor der Pandemie existierenden Probleme konnten in den vergangenen Monaten kaum aufgearbeitet werden und die neuen Probleme sind zahlreich. Die Krise hat die Lücken in unserem Gesundheits- und Sozialsystem deutlich sichtbar gemacht, Lücken die man als einzelne Abgeordnete sicher nicht allein zu schließen vermag. Aber helfen will ich trotzdem so gut wie ich kann. Es müssen gemeinsame Lösungen gefunden werden. Ich spreche bspw. mit der Landesvorsitzenden der Hebammen und kann ihnen helfen, auch während der Kontaktbeschränkungsmaßnahmen weiter arbeiten zu können.           
Ab dem 20. April treten wieder leichte Lockerungen der Beschränkungen ein, zehn Tage später folgen weitere. Am 2. Mai kam es erstmalig zu Protesten gegen die Corona-Maßnahmen in Deutschland, organisiert von rechten Gruppierungen. Eine Woche später wird erneut bundesweit demonstriert und das BKA warnt vor einer Radikalisierung der Proteste. Seit dem 11. Mai dürfen viele Schülerinnen und Schüler wieder in die Schule. Nach zwei Monaten Zwangspause startet am 18. Mai in Thüringen wieder der reguläre Betrieb der Kitas sowie der Gastronomie. Anfang Juni werden immer mehr Lockerungen zugelassen und schließlich hebt Thüringen als erstes Bundesland die Kontaktbeschränkungen auf. Trotzdem gelten weiter Abstandsregelungen und die Maskenpflicht. Man beschreitet fortan den „Thüringer Weg“. Gehandelt wird vor allem auf kommunaler Ebene, wenn es lokal zu Infektionsherden kommt bspw. in Schulen oder auf Familienfeiern. Thüringens Ministerpräsident favorisierte dieses Vorgehen bereits im Mai.     
Im Sommer scheint sich das Geschehen zumindest in Deutschland etwas zu normalisieren. Auch ich kann wieder die Vereine und Einrichtungen im Wahlkreis besuchen, die aufgrund meines Briefes mit mir reden wollen. In den Gesprächen fällt einem sofort auf, wie einfallsreich die Menschen mit der Krise und den Kontaktbeschränkungen umgegangen sind, bspw. hielten die Freiwilligen des Bewährungs - und Straffälligenhilfe Thüringen e.V. mit ihren Klienten per Brief Kontakt. Dabei machten sie gute Erfahrungen. Auch die Solidarität, von der die Bürgerinnen und Bürger berichten, gibt mir Hoffnung. Die Menschen erzählen mir von den neuen und alten Problemen, manche davon lassen sich schon während der Gespräche lösen. Andere trage ich weiter an die zuständigen Ministerien wie der fehlende Zugang für profamilia zum kostenlosen Dolmetscherportal, stelle Anfragen im Stadtrat, z.B. für die Grundschule Alach bezüglichen der Sporthalle oder schreibe Kleine Anfragen im Landtag. Unter anderem besuche ich im Sommer auch die Obdachlosenunterkunft für Frauen, den Treff der Generationen am Roten Berg, den Waidspeicher Erfurt, das Zentrum gegen Gewalt an Frauen „Brennessel“, einen Bürger in Mittelhausen, die Ortsteilbürgermeisterin von Kühnhausen, das Haus Lebensbrücke der AWO, den Zoopark Erfurt, die Berufsbildende Schule Sebastian Lucius, den Ortsteilbürgermeister von Azmannsdorf, den Ortsteilbürgermeister von Vieselbach und Wallichen, die Caritas Erfurt, den Ortsteilbürgermeister von Kerspleben, den Landesvolksbildung Thüringer e.V., das Mehrgenerationenhaus am Moskauer Platz, das Alloheim in der Neuwerkstraße, die Liga der Selbstvertretung, die Kindergärten „Kinderland am Zoo“ am Roten Berg und „Siebenstein“ am Moskauer Platz, die Tagesgruppe der AWO, die Staudengärten am Roten Berg, das Projekt „Bärenstark“, die Rheumaliga Erfurt, die Th.inka im Rieth, den Kindergarten „Weißbachspatzen“ in Töttelstädt und die Berufsschule „St. Elisabeth“ der Caritas. Mein Fazit: Es muss ein Erfahrungsaustausch stattfinden, damit sich die Fehler des ersten Lockdowns nicht wiederholen.              
Immer wieder kommt es in Deutschland zu Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen, am 29. August stürmen Rechte sogar die Treppen des Reichstags als eine der Demonstrationen wegen Verstoß gegen die Hygienevorschriften aufgelöst wird. In Thüringen beginnt am 31. August das neue Schuljahr unter strikten Hygienebedingungen, eine Maskenpflicht gilt aber nicht für die Kinder. Im September und Oktober beginnen die Infektionszahlen wieder stark zu steigen, weshalb im Oktober neue Maßnahmen zur Eindämmung des Virus beschlossen werden, bspw. dürfen bei Privatfeiern nur zehn Menschen aus zwei Haushalten teilnehmen. Die Regelungen treten in Kraft sobald sich 50 Menschen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen neuinfizieren. Kurze Zeit später steigt die Zahl der Neuinfektionen so rasant an, dass striktere Regelungen eingeführt werden. Die Polizei meldet, dass die Reaktionen auf die Kontrolle der Corona-Auflagen immer aggressiver werden. Seit dem 24. Oktober sind auch die Thüringer Städte Gera und Erfurt Risikogebiete. Einen Tag später beschließt die Stadt Erfurt eine Sperrstunde und sagt den Weihnachtsmarkt ab. Am 28. Oktober wird für den November ein bundesweiter Teil-Lockdown beschlossen: Gastronomie, Tourismus- und Kultureinrichtungen müssen schließen. Der Betrieb von Schulen, Handel und Wirtschaft soll aber fortgesetzt werden. Ramelow übt Kritik an der Art und Weise der Beschlussfassung. Notverordnungen sollten kein Regelfall werden, in einer Demokratie darf man die Parlamente nicht außenvorlassen. Zudem will er auch die kulturellen, touristischen und gastronomischen Betriebe nicht weiter belasten. Deshalb sieht er für Thüringen einen anderen Weg vor. Doch Informationen durch die Bundeskanzlerin, die zuvor nicht rechtzeitig weitergegeben wurden, zeigen auf, dass ab November dieselben scharfen Maßnahmen, wie sie bereits in Erfurt gelten, notwendig geworden wären. Er trägt deswegen den gemeinsamen Beschluss mit. Der Thüringer Weg wird damit nicht verlassen, die Gesundheitsämter weisen weiterhin lokal adäquat zukünftige Maßnahmen an. Das Parlament wird auch nicht übergangen, da die dringend notwendigen Entscheidungen kurzfristig getroffen werden mussten ohne Parlament, berät es nachträglich über Anpassungen. Würde Thüringen als einziges Bundesland diese Maßnahmen nicht beschließen, bestünde die Gefahr, es zu einem Paradis für die „Querdenker“ und „Corona-Skeptiker“ zu machen. Das wäre eine Bedrohung für die gesamte Bevölkerung. Wie gefährlich diese Gruppierung ist, wird ersichtlich anhand ihrer Drohungen gegen Bodo Ramelow, dem sie sogar einen Grabstein vor die Privatadresse stellt. Auch durch die Aktion am 9. November wird dies deutlich sichtbar, während der sie Schülerinnen und Schüler auf ihrem Weg zum Lehrgebäude belästigen wollen mit ihren Verschwörungstheorien sowie dem Aushändigen unsicherer Masken mit ihrem Logo drauf.                  
Die Krise, verursacht durch den Virus, erschüttert unsere Gesellschaft. Die Fehler in unserem System, wie verbreitet Verschwörungstheorien und wie gefährlich rechte Gruppierungen sind, wurden in diesem Jahr noch deutlicher. Doch eines hat die Corona-Krise uns auch gezeigt: wie solidarisch Menschen miteinander sind. Es bilden sich Netzwerke für gegenseitige Hilfe. Man hält sich an die Maßnahmen und beschränkt die physischen Kontakte, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Man hilft seinen Nachbarn, seiner Familie und rückt metaphorisch näher zusammen, findet neue Wege für Beschäftigung und Kommunikation als die gewohnten. Doch wir müssen uns auch fragen, was wir aus der Pandemie lernen. Wir haben gemeinsam auf den letzten Seiten einen Blick in die jüngste Vergangenheit geworfen und stellen uns jetzt die Fragen für die Zukunft: Wie wollen wir die Gesellschaft gestalten, damit sie nicht durch einen Virus zusammenbricht? Welche Wege müssen wir gehen, um zu verhindern, dass manche Menschen mehr unter einer Krise leiden als andere und die, die mehr Last tragen können als andere, diese Verantwortung auch solidarisch wahrnehmen? Wie wollen wir unsere Demokratie gestalten in Zukunft, damit Menschen sich nicht ausgegrenzt fühlen, sondern motiviert sind, mitzumachen?

Das sind Fragen, die sich auch unser Ministerpräsident Bodo Ramelow stellt und sie mit seinem Zukunftsprogramm für Thüringen beantworten will.

Am Ende möchte ich sagen, dass wir die politischen und gesundheitlichen Krisen dieses Jahr nicht all die positiven, erreichten Sachen überschatten lassen sollten. Ich will weiterhin mit Optimismus in die Zukunft gehen, um Kraft für die Aufgaben der Gegenwart zu haben. Wenn Sie ein Anliegen haben, dann bin ich auch 2021 für Sie da, lassen Sie es uns gemeinsam angehen.